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Leseprobe
Prolog zu "DAS STUMME KIND"
Autobahnraststätte südlich von Hamburg, dreizehn Jahre zuvor
Vielleicht hätte Andreas Joost sein Schicksal an diesem Abend ein letztes Mal zum Guten wenden können. Dazu hätte er allerdings all seinen Mut zusammennehmen müssen. Es war seit einigen Stunden dunkel, als er seinen Mercedes Kombi südlich von Hamburg auf eine Raststätte an der A7 lenkte. Vor ihm spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen auf dem nassen Asphalt und erzeugte so an wenigen Stellen etwas Helligkeit. Den Rest der Szenerie verbarg die Nacht. In einem abgelegenen Winkel des Rastplatzes parkte Joost den Wagen, nestelte eine Zigarette aus seiner Hemdtasche und steckte sich mit leicht zitternder Hand das Mundstück zwischen die Lippen. Anschließend zog er ein Streichholz mehrmals über die Reibefläche der Pappschachtel, bis das dünne Stäbchen dem Druck seiner Finger nicht mehr standhielt und brach. Er nahm ein neues Streichholz und brauchte zwei weitere Versuche, dann erst flammte der Zündkopf auf. Endlich glomm der Tabak. Er inhalierte den Rauch tief in seine Lungen, schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, die quälenden Grübeleien der letzten Tage aus seinem Kopf zu verbannen.
Sosehr Joost sich auch bemühte – die erzwungene Ruhe dauerte nur wenige Augenblicke. Noch bevor der Zigarettenqualm sich aufgelöst hatte, drängten sich die Gedanken an seine Frau Sarah wieder in den Vordergrund. Seit Tagen peinigten ihn dieselben Bilder: Sarah hatte sich in ihrem Krankenhausbett aufgesetzt und schmiegte ihre neugeborene Tochter an sich. Zärtlich strich seine Frau über die Wangen des Säuglings, dann strahlte sie mit einem Ausdruck vollkommenen Glücks. Für ihn war dieser Anblick kaum zu ertragen. Einige Male fuhr er mit den Fingern durch sein dichtes Haar und starrte auf das Glimmen des Tabaks. Schließlich bemühte er sich, seine Konzentration auf das bevorstehende Treffen mit der Frau zu lenken, die er den »Eis-Engel« nannte. Joost hatte den Eis-Engel vor eineinhalb Jahren kennengelernt. Sie hatte zerbrechlich auf ihn gewirkt und seinen Beschützerinstinkt geweckt. Heute wünschte er sich, jemand würde ihn beschützen – vor ihr.
Joosts Gedanken schweiften erneut ab; unwillkürlich musste er an die vergangenen Jahre denken. Schon als Teenager war es sein Traum gewesen, Medizin zu studieren, eine Familie zu gründen und als Kinderarzt zu arbeiten. Spätestens ab dem 45. Geburtstag wollte er sein Leben genießen: mit Landhausvilla, Frau, Kindern, Porsche und ausgedehnten Reisen in die Südsee. Zunächst verlief alles nach Plan: Er bestand den Medizinertest und das Abitur mit Bravour und erhielt prompt einen Studienplatz an der Medizinischen Hochschule Hannover. Wegen einer harmlosen Allergie musste er keinen Zivildienst leisten und konnte sich im Alter von neunzehn Jahren bereits an der Universität einschreiben. In den ersten Wochen seines Studiums lernte er Sarah kennen. Sie war ebenfalls Medizinstudentin und entsprach ganz seinem Geschmack: Sie war schlank, sportlich und mit rund einem Meter sechzig nicht allzu groß. Dazu hatte sie dunkel braune Augen und lange blonde Haare, die sie meist hochgesteckt trug. Joosts Vater arbeitete als Pilot und seine Mutter als Journalistin: Sie besaßen genug Geld, um sein Studium sehr großzügig zu finanzieren. Heute, mit vierundzwanzig Jahren, lagen das Physikum und das erste Staatsexamen hinter ihm. Beides hatte er ohne größere Probleme bestanden. Daher hatte er keinerlei Bauchschmerzen, wenn er an das zweite und an das dritte Staatsexamen dachte. Joost war sich im Klaren darüber, dass er zum privilegierten Teil der Gesellschaft gehörte. Er wusste, dass der Lebensstandard, den er genoss, nicht selbstverständlich war – dennoch hatte er nie damit gerechnet, dass seine Situation sich ändern könnte. Ein fataler Fehler. Wieder führte er die Zigarette an den Mund, umschloss den Filter fahrig mit seinen Lippen und inhalierte den Rauch so tief er konnte. Er hielt den Atem an, bis ihm übel wurde, dann blies er den Rauch an den Plastikhimmel des Mercedes. Er spürte, wie eine ohnmächtige Wut in ihm aufstieg und ihn zu übermannen drohte. Mit beiden Armen holte er weit aus und schlug seine Handballen so heftig gegen das Lenkrad, dass die Asche des verglühten Tabaks auf das Armaturenbrett fiel. Es zogen Bilder durch seinen Kopf, die ihn wütend machten: Er sah Sarah vor sich, wie sie ihm unaufhörlich vorschwärmte, dass ein Kind ihre Beziehung bereichern würde. Er sah Sarah vor sich, wie sie ihm unablässig vorhielt, dass der Schwangerschaftstest schon wieder negativ ausgefallen war. Er sah Sarah vor sich, wie sie ihn beharrlich davon zu überzeugen versuchte, dass auch er sich von einem Spezialisten untersuchen lassen müsste. Er sah Sarah vor sich, wie sie das Gutachten endlos studierte und sich einredete, dass auch Fachleute sich irren konnten. Er sah Sarah vor sich, wie sie ihm wieder und wieder vorwarf, dass seine Eltern die finanzielle Unterstützung reduziert hatten. Er sah Sarah, Sarah, Sarah!
Als er damals dachte, dass seine Probleme nicht größer werden könnten, war der Eis-Engel in sein Leben getreten. Er hatte dies für eine glückliche Fügung des Schicksals gehalten. Er hatte nicht geahnt, dass von nun an alles noch schlimmer würde! Hätte er damals bloß Nein gesagt! Doch der Eis-Engel hatte ihn in Versuchung geführt, und er hatte nicht widerstanden. Joost drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, legte beide Hände auf das Lenkrad und setzte sich aufrecht. Sein Blick fiel in den Rückspiegel, und er musterte sein Gesicht. Plötzlich war er so entschlossen wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Nur ein kleines Wort trennte ihn davon, zumindest einen Teil seines inneren Friedens wiederherzustellen! Doch Joost bekam keine Gelegenheit mehr, sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein zu nutzen und sich für das anstehende Gespräch eine Taktik zurechtzulegen. Unvermittelt öffnete sich die Beifahrertür, und der Eis-Engel glitt auf den Sitz neben ihm. Die Frau zog die Tür ins Schloss, legte einen Aluminiumkoffer auf ihren Knien ab und schaute ihn an. Er drehte den Kopf und starrte auf das Lenkrad. Er brauchte einige Augenblicke, bis er endlich Worte fand: »Ich steige aus!« Sie lachte kurz auf. »Sie können ruhig sitzen bleiben, Herr Joost!« Ihre Finger strichen über das Aluminium des Koffers, dann hörte er ein schnelles »Klick-Klick«. Sie hob den Deckel des Koffers an und gab den Blick auf dessen Inhalt frei. Er staunte. »Wie besprochen«, sagte sie. »Die ersten zweihundertfünfzigtausend Mark bekommen Sie jetzt. Die restlichen zweihundertfünfzigtausend erhalten Sie, wenn alles abgeschlossen ist.« Sie ließ den Deckel fallen und verriegelte die Schlösser wieder. Dann stellte sie den Koffer im Fußraum ab. »Ich melde mich, wenn wir so weit sind!« Joost atmete schwer. Erst als die Hand des Eis-Engels sich um den Türgriff schloss, traute er sich zu fragen: »Wann . . . wann ist denn alles abgeschlossen?« Sie wandte ihm das Gesicht wieder zu: »Wie ich Ihnen schon mehrmals gesagt habe: in etwa drei Jahren!« Er schaute sie an und schwieg. Ihre türkisfarbenen Augen erinnerten ihn an die letzte Island-Reise. Gebannt hatte er damals auf den Gletscher Vatnajökull gestarrt. Dessen Eis wirkte kristallklar – und doch war es unergründlich. Sie stieg aus und beugte sich noch einmal zu ihm hinunter. »Das ganze Team lässt übrigens herzliche Glückwünsche zur Geburt Ihrer wunderschönen Tochter ausrichten.« Er zuckte zusammen und schaute sie verblüfft an. »Ach so. Ja . . . ja«, murmelte er schließlich und ärgerte sich darüber, dass ihm einfach keine passenden Worte einfallen wollten.